Visitor im Flow
Besucherstromlenkung lautet gemeinhin der Fachbegriff, wenn es um die gezielte „Steuerung“ des Andrangs bei touristischen Destinationen in zeitlicher und/oder räumlicher Hinsicht geht. Jedenfalls zu vermeiden ist der Exzess, die vollständige Überforderung von Kapazitäten, was Defizite bei Sicherheit und Komfort sowie letztendlich auch geringe Tourismusakzeptanz in der Bevölkerung zeitigt.
Besucherstromlenkung heißt im Englischen Visitor Flow Management und Flow wäre von der menschlichen Erfahrung her ein schönes Ziel: Mihály Csíkszentmihályi stellt in seinem Klassiker „Flow: The Psychology of Optimal Experience“ die Theorie auf, dass Menschen am glücklichsten sind, wenn sie sich in einem Zustand des Flows befinden — einem Zustand der Konzentration oder vollständigen Vertiefung in die jeweilige Aktivität und die Situation.
Nach Vail am Arlberg und Pioniergeist mit und ohne Schnee sollten wir uns auch in diesem dritten Teil einer Trilogie zu Themen, die den Bergtourismus in unserem Land in den nächsten fünf Jahren entscheidend prägen werden, die Latte höher legen:
Bei der Besucherstromlenkung gilt es nicht nur Unheil von allen Beteiligten abzuwenden, sondern vielmehr den kumulierten Freizeit- und Erholungswert der Gäste zu optimieren. Das funktioniert nicht mit isolierten Maßnahmen; zumindest innerhalb einer Destination braucht es dazu von der Erhebung der Daten, über die Gestaltung der Angebote (und Verbote), bis zur Steuerung der Nachfrage eine gemeinsame Linie. Außerdem müssen wir aus Sicht der Klimawandelanpassung den Besucherstrom viel feiner, sozusagen bis in Bächlein hinein, verfolgen und steuern.
Statt Nachfragespitzen im Winter könnten in Zukunft vermehrt im Hochsommer Menschen aus den heißen Städten in die kühlen Berge „flüchten“. Das eigentliche Ziel lautet, das ganze Jahr über attraktiv und insgesamt gleichmäßiger ausgelastet zu sein.
Warum?
Sowohl die Ökologisierung vorantreiben als auch die Wirtschaftlichkeit erhöhen erfordert Besucherstromlenkung: Es geht gleichermaßen um nicht zu viel und nicht zu wenig Besucheraufkommen. Unser Ziel für den Bergtourismus muss generell sein, vor allem bereits existierende Infrastruktur möglichst gut zu nutzen. Bevor der nächste Klettersteig errichtet wird, gilt es die bestehenden Möglichkeiten besser auszunutzen. Und Schutzhütten müssen – wie andere Beherbergungsbetriebe auch – danach trachten ihre Vollbelegstage zu erhöhen.
Ein intensiver Tourismus ist kein Widerspruch zu Naturschutz: Denn im Umkehrschluss bleiben andere, nicht touristisch genutzte Flächen unbeeinträchtigt. Dieses Prinzip der Kanalisierung treiben unsere Skigebiete auf die Spitze: Pisten auf weniger als 0,5 % der Alpenfläche, 50 Millionen Besuche in der Wintersaison. Im Vortrag an den Ministerrat zur Entwicklung einer österreichweiten Mountainbikestrategie wird mit der Lenkung durch das sogenannte Vertragsmodell argumentiert. Lenkung von veränderten Besucherströmen gilt auch dem deutschen Umweltbundesamt als Maßnahme bei der Klimawandelanpassung.
Alle Bemühungen zu einem ökologisch verträglichem und wirtschaftlichen Tourismusmodell kulminieren in der Frage der Mobilität, der An- und Abreise von Gästen und Mitarbeitern, aber auch der Erreichbarkeit vor Ort. Attraktiver öffentlicher Verkehr bedingt zumindest eine gewisse Grundauslastung; je mehr bedarfsorientierte Mobilität wie z.B. Postbus Shuttle genutzt wird (und je überschaubarer ein Bediengebiet) desto leichter fällt die Finanzierung. Selbst Fuß- und Radwege legitimieren sich durch tatsächliche Nutzung. Also braucht es speziell in bevölkerungsarmen Räumen sehr wohl eine gewisse Konzentration des Tourismus, wobei natürlich gilt: Die Dosis macht das Gift.
Wie?
Uns stehen in der alpinen Tourismus- und Freizeitwirtschaft so viele und gute Daten zur Verfügung wie nie zuvor. Man denke nur an hochauflösende Satellitenbilder oder anonymisierte Mobilfunkbewegungsdaten. Wer jemals die Heat Maps von Strava studiert, bei Invenium oder Motion Insights gesehen hat, woher Gäste kommen, wie lange sie wo genau bleiben und wie sie soziodemografisch zusammengesetzt sind, der will diese Informationen nicht mehr missen. Wie die ÖROK-Erreichbarkeitsanalyse zeigt, mangelt es in Österreich nicht an Mobilitätsdaten; und schon gar nicht an touristischen Daten im engeren Sinn: Destination Insights der Tirol Werbung.
Für die Seilbahnwirtschaft könnten wir sogar vom Tages- bis zum Saisonverlauf das Angebot (Pistenkilometer, Schneequalität, Aufstiegshilfen und deren Förderleistung) der realisierten Nachfrage (Ersteintritte, Fahrten) gegenüberstellen.
Allerdings müssen Daten für Gastgeber und deren Gäste aufbereitet werden, damit daraus eine aktuelle und relevante Information bzw. Entscheidungsgrundlage wird. Im Bereich des Naturschutzes müssen beispielsweise „komplexe Regelwerke in digitale, klare, einheitliche Informationen verwandelt“ werden wie es der gemeinnützige Verein Digitize the Planet formuliert. Dessen Mission lautet, „naturschutzrelevante Informationen zu digitalisieren, aufzubereiten und als georeferenzierte, maschinenlesbare Open Data kostenlos zur Verfügung stellen.“ Damit diese nämlich tatsächlich in digitalen Anwendungen wie z.B. Tourenportalen, Outdoor-Apps und Navigationsdiensten ankommen.
Für jegliche ernsthafte Besucherstromlenkung gibt es eine unbedingt notwendige Voraussetzung: Ohne mengenmäßige Beschränkung von Kapazitäten (diese wiederum bezogen auf Zeiteinheiten, sogenannte Slots) geht es nicht. Die Kontingentierung hat einen schalen Beigeschmack, wird oft als möglicher Eingriff in die persönliche Freiheit wahrgenommen. Zudem steht sie im völligen Gegensatz zu liebgewonnenen Traditionen, insbesondere bei Seilbahnen: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Umgekehrt kann aber auch argumentiert werden, dass es die Wahlfreiheit sogar befördert, wenn z.B. lange Wartezeiten vermieden werden können. Bei der Rax-Seilbahn und der Schneebergbahn in Niederösterreich buchen die Gäste in aller Regel ihre Tickets für eine bestimmte Zeit (Berg- und Talfahrt) vorab und online.
Wirkliche Exzellenz in der Besucherstromlenkung entsteht, wenn Kapazitäten und Wahlmöglichkeiten bei den (auch durch verschiedene Unternehmen) erbrachten Leistungen entlang der Customer Journey aufeinander abgestimmt sind: Ein klassischer „Flaschenhals“ sind z.B. Zubringerbahnen und Talabfahrten. Was nützt die beste Anbindung durch den Öffentlichen Verkehr, wenn Sportgeräte nicht adäquat mittransportiert werden? Erfolgreiche Klimawandelanpassung resultiert aus solchen vermeintlich trivialen Details.
Was?
Ihr Autor hat schon öfter österreichweite Saisonkarten als Upgrade zum KlimaTicket in die Diskussion eingebracht, beispielsweise als Kommentar der anderen im Der Standard. Saisonale Umlagekarten für Nächtigungsgäste wie die JOKER CARD oder auch Abonnements für Ein- und Zweitheimische wie das Freizeitticket Tirol oder die Niederösterreich-CARD erzeugen hochrelevante Nutzungsdaten. Die organisatorische Komplexität dieser Pools ist nicht zu unterschätzen, allein ein einheitliches System für die Akzeptanz- und Abrechnungsorganisation zu etablieren, kostet Zeit und Geld.
Was wäre, wenn wir in Österreich überhaupt gemeinsame Sache machen? Wenn wir vom Bodensee bis zum Neusiedler See für Freizeit und Urlaub automatisiert die besten Hinweise geben und Anreize setzen – also Nudging im Interesse von Nutzerinnen und Nutzern sowie der Betriebe praktizieren. Siehe dazu Abschnitt 4.1 Nudging und Behaviour Change Interventions in der Publikation Nachhaltige Besucherstromlenkung im Alpenraum von Salzburg Research.
Auch eine andere Vision setzt auf Kooperenz: Für die nächsten fünf Jahre ist bei den Skigebieten mit mehr und mehr dynamisierten Preismodellen zu rechnen. Flexible Preise sind natürlich eine gute Voraussetzung für Besucherstromlenkung; die grundlegende Strategie lautet möglichst viele Buchungen schon im Vorfeld z.B. durch Frühbucherrabatte zu lukrieren, Erlöse – die „pre-committed in advance“ sind (wie es Vail Resorts formulieren) – zu mehren. Gleichzeitig sehen wir zuerst bei Tages- und jetzt wohl auch zunehmend bei Nächtigungsgästen die Tendenz zuzuwarten und eher kurzfristig zu buchen.
Früher oder später werden wie bei Flug, Unterkunft und Mietauto Intermediäre für die Leistungen der Seilbahnwirtschaft auftreten. Nichts gegen Amsterdam, aber eine derartige Plattform könnte auch in Österreich und unter Beteiligung der Branche reüssieren. Russmedia engagiert sich beispielsweise bereits seit Jahren einschlägig im Bergtourismus: im Bereich Ausrüstungsverleih (ALPINRESORTS.com) und Information (Bergfex).
Kommentieren